Marco Maurer: Chancengerechtigkeit neu verhandeln

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Published On: 28. April 2015By

Der Journalist und Autor Marco Maurer hat Anfang des Monats sein Buch “Du bleibst was du bist” veröffentlicht, das wir hier im Blog schon ausführlich besprochen haben. Im Gespräch macht er seine Anliegen deutlich, erläutert seine Forderungen und erklärt, warum er sich als Journalist für Chancengerechtigkeit engagiert.

“Ich Arbeiterkind” lautete der Titel des ZEIT-Dossiers, das Vorläufer für Ihr Buch war. Ist das heute noch eine Kategorie, die passend ist für diejenigen, die vom Bildungserfolg ausgeschlossen bleiben?

Nein, der Begriff ist natürlich unpassend, eigentlich. In meinem Buch definiere ich den Begriff „Arbeiterkind“ deshalb weiter. Für mich sind das heutzutage Kinder, in deren Familien klassische Bildung – ein Buch lesen, ins Theater gehen – nicht zählt. Auch ein Haushalt, in dem kaum eine politische Bildung stattfindet. Das kann die Tochter einer Supermarktkassiererin oder eines Hartz-IV-Empfängers genauso sein wie der Sohn eines Metzgers oder die Kinder in den Willkommensklassen eines Einwanderers aus Syrien mit wenig Schulbildung und sprachlichen Defiziten. Zudem plädiere ich dafür, anstelle von „Arbeiterkind“ – ein wie ich finde hässliches und rückwärtsgewandtes Wort – lieber die leider etwas sperrige Bezeichnung „Erststudierende in einer Familie“ zu verwenden. In den USA gibt es dafür den Ausdruck „first generation students“.  Brauchbar ist – wenn auch nicht sehr schön – der Begriff „Nicht-Akademikerkind.“

Sie glauben – wie mehrere Ihrer Gesprächspartner auch –, dass der Aufstieg für ein Kind aus nicht-akademischem Milieu heute noch schwieriger geworden ist als in den 70er und 80er Jahren. Woran machen Sie das fest?

Naja, einerseits an den Zahlen. Auch wenn das Leute wie der Journalist Christian Füller anders sehen, sprechen die Zahlen der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks noch immer für sich: 77 Prozent der Akademikerkinder beginnen ein Studium, bei nicht-akademischen sind es 23 Prozent. Da hilft auch der Verweis auf die steigende Abiturquote wenig. Denn wenn immer mehr Menschen Abitur machen, hat das nicht nur positive Folgen. Das Ansehen des Abiturzeugnisses sinkt dadurch nämlich. Dennoch wird die steigende Abiturquote als Erfolg in den Statistiken verbucht. Ungeachtet des Umstands, dass dann andere Faktoren wieder wichtiger werden. Nicht nur der Geldbeutel, sondern auch das Netzwerk der Eltern und der Habitus, also das Auftreten einer Schülerin. Es wird wieder bedeutsamer, ob sie sich gut kleiden kann, ob sie Auslandsaufenthalte und schlecht bezahlte Praktika vorweisen – nein, sich leisten kann. Diese geerbten Faktoren entscheiden dann letztlich über die Karriere – und das „Arbeiterkind“ wird bestenfalls Bürokaufmann mit Abizeugnis.

Zudem habe ich ja mit vielen Experten zum Thema gesprochen, sie alle bestätigten mir das. Forscher berichteten mir von ihren Ergebnissen. Und was ich in den Hauptschulen, in den Gymnasien und an den Gemeinschaftsschulen hautnah gesehen habe, das lässt ja auch keinen anderen Schluss zu. Genau wie das, was ich bei Arbeiterkind.de erlebt habe und als ich mit dem Talentförderer Suat Yilmaz im Ruhrpott unterwegs war. Diese Realitäten gibt es, und ich hab sie als Reporter beschrieben.

Sie verlangen unter anderem die Abschaffung der frühen Trennung von Grundschulkindern nach vier Jahren in verschiedene Schulformen. In Hamburg ist genau dieses gemeinsame Lernen bis zur sechsten Klasse bei einem parteiübergreifenden Konsens vor einigen Jahren am Widerspruch bestimmter Eltern gescheitert. Ist die Politik da noch der richtige Ansprechpartner?

Ich finde, wir müssen die Politik in ihre Pflicht nehmen. Das Thema muss verhandelt werden. Doch die CDU/CSU verspürt da keinen Willen, etwas zu ändern. Die SPD will vielleicht noch, aber hat seit der Abspaltung der Linken zu wenig eigene Kraft, um in diesem Land noch Veränderungen anzustoßen. In der großen Koalition mussten sie sogar das so verhasste Betreuungsgeld akzeptieren. Auch wenn Bildungspolitik Ländersache ist, hat das ja Auswirkungen. Die SPD forderte bei der vergangenen Bundestagswahl, 20 Milliarden jährlich in das Bildungssystem zu stecken. Da aber nur mit den Grünen keine Mehrheit mehr zu gewinnen ist, ist das nichts anderes als ein frommer Wunsch geblieben.

Zudem: Wer soll es denn sonst machen als die Politiker? Vielleicht müssten aber auch die Journalisten mal das Thema für sich erkennen. Erfreulicherweise passiert das gerade bei der Flüchtlingsproblematik. Es ist jetzt auf der Agenda. Ich würde mir wünschen, dass unser Bildungssystem auch mal so in den Fokus gelangt.

Und zu den Eltern – ich bin da ähnlicher Meinung wie Ole von Beust. Ich glaube wir können es uns nicht weiter leisten, Menschen von Teilhabe an Chancen auszuschließen. Sonst knallt bald der Laden. Das sagte er mir, und das sehe ich ähnlich. Das können weder Eltern noch Politiker noch Journalisten dauerhaft wollen. Wir als Gesellschaft müssen da umdenken und das heißt: Mehr Geld, Aufmerksamkeit und Qualität in unser Bildungssystem stecken und diese Wünsche an die Politik kommunizieren. Deutschland hätte genug Geld im Staatshaushalt, um mehr Chancengerechtigkeit zu verwirklichen.

Chancengleichheit in der Schule geht einher mit einer stärkeren Einflussnahme des Staates auf die Erziehung unserer Kinder. Können Sie nachvollziehen, dass einige Eltern sich dagegen wehren und in Privatschulen flüchten, wenn sie erleben, wie schlecht ausgestattet die öffentlichen Einrichtungen für diese Aufgabe sind?

Ich glaube das Problem sind nicht die Privatschulen. Die hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Außerdem würde ich eher von Chancengerechtigkeit sprechen, nicht Chancengleichheit. Zu Ihrer Frage: Ich kann das mit den Privatschulen sogar nachvollziehen, aber ich kann es auch nicht in allen Fällen gutheißen. Ich glaube auch, dass diesen Kindern in Privatschulen ein wenig Realität genommen wird. Das sind im schlimmsten Fall Schulen, die nichts mit unserer Gesellschaft zu tun haben, abgeschottete Systeme. Trifft dort eine repräsentative Gesellschaft aufeinander? Gibt es dort Kinder von Zuwanderern, von Arbeitern und Handwerkern? Oder doch nur eher die Kinder der gut etablierten Mittel- bis Oberschicht? Wird in diesen Schulen die soziale Kompetenz ausreichend gefördert? Jetzt überspitze ich ein wenig: aber vielleicht müssen diese Privatschul-Kinder ja sogar wieder re-integriert werden, weil sie den Umgang mit der durchschnittlichen Gesellschaft in ihren Schulen verlernen? Ich weiß übrigens von einem Fußball-Nationalspieler und Weltmeister: Er und seine Frau bringen ihr Kind aus genau diesem Gedanken in eine ganz normale Kita. Die machen kein Bohei um ihr Kind und werden es wahrscheinlich auch nicht auf eine Privatschule schicken. Warum auch, sagen sie sich. Das ist vorbildlich.

Wie bewerten Sie die aktuelle Klage vom so genannten „Akademisierungswahn“?

Ach, das ist doch Blödsinn. Natürlich müssen nicht alle studieren. Und es müssen mehr Kinder und Jugendliche eine Lehre antreten dürfen, deren Eltern Akademiker sind, wenn sie es sich wünschen und begabt dafür sind. Aber der Statuserhalt der Eltern lässt das ja nicht zu. Floristin zu werden wird von diesen Eltern als Abstieg empfunden – das ist doch sehr schade, oder nicht? Auf der anderen Seite müssten eben mehr dieser bisherigen Nichtakademikerkinder ein Studium antreten dürfen. Aber sie scheitern an zu vielen Hürden – innerhalb der Familie sind das Vorbehalte, außerhalb ein selektives Schulsystem und später auf den Karrierewegen Hürden wie unbezahlte oder schlecht bezahlte Praktika, die sich nur die leisten können, die mit einem gewissen Kapital im Rücken ausgestattet sind. Und so sind sich die Top-Entscheider unserer Republik meist zu ähnlich, Diversität findet kaum statt, dort wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden.

Ihre persönlichen Schilderungen, die das Buch sehr anschaulich machen, verraten viel auch von den Menschen aus Ihrem engsten Umfeld. Wie haben Ihre Familie und Ihre Freunde reagiert, als sie erfuhren, wie viel Sie von ihnen preisgeben?

Mein Vater sagte mir: „Marco, Du darfst alles schreiben, Hauptsache es ist wahr.“ Zudem habe ich bei den ein oder anderen natürlich gefragt, ob es möglich ist, ihn oder sie abzubilden. Sie waren einverstanden – dafür bin ich jeweils sehr dankbar. Ich wollte dadurch das eher unattraktive Thema Bildung/Chancengerechtigkeit nachfühlbarer und greifbarer machen. Das galt für das ZEIT-Dossier einst wie auch heute für mein aktuelles Buch.

In Ihrem Video bitten Sie die, die Ihre Meinung teilen, um Unterstützung. Was könnten Einzelne tun?

Naja, sich über unser gegenwärtiges Bildungssystem Gedanken zu machen, wäre schon ein Anfang. Journalisten könnten das Feld mehr beackern, Ungerechtigkeiten beschreiben. Aber das ist halt für viele zu unattraktiv. Und Menschen, die helfen wollen, können nicht nur an die Politik appellieren, sondern sich überlegen, ob sie in ein Mentorenprogramm gehen und begabten jungen Menschen helfen könnten. Das gilt vor allem auch für Sozialeinrichtungen wie Kindergärten, Kitas, Schulen usw. Es wäre toll, wenn die mit Initiativen wie Rock Your Life, Arbeiterkind.de, Teach First oder anderen regionalen Mentoringprogrammen zusammenarbeiten würden. Und wenn unsere Hochschulen Programme anbieten könnten, um gezielt begabte Menschen aus eher bildungsfernen Milieus in ihre Hörsäle zu locken. Vorbildlich macht das ja die Hochschule Gelsenkirchen mit ihrem Programm „Meine Talentförderung“. Jede moderne Hochschule könnte das gebrauchen. Aber bei diesem Thema sieht man ja unsere Hochschulen oftmals noch im Tiefschlaf.

Sie machen sich in Ihrem Buch für politische Forderungen stark, kämpfen für Chancengerechtigkeit in der Bildung und bekennen sich zu einer politischen Haltung. Wie stehen Sie zu dem viel zitierten Ausspruch von Hanns Joachim Friedrichs, ein Journalist mache sich mit keiner Sache gemein – auch mit keiner guten?

Hanns Joachim Friedrichs Arbeit schätzte ich sehr – aber das sehe ich ganz anders. Ich finde, Journalisten müssten generell wieder stärker eine politische Haltung – egal ob konservativ, liberal oder links – einnehmen. Es gibt übrigens Untersuchungen, dass dieser Gedanke unter Journalistenschülern kaum mehr verbreitet ist. In den 1970er/1980er Jahren war das noch anders. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das wiederum damit zusammenhängt, dass die meisten Journalistenschüler aus demselben Milieu entspringen.

Selbst sehe ich mich auch keiner Partei zu nahe. Ich verbünde mich eher mit den Schwächeren, den oftmals Nicht-Gehörten. In dieser Hinsicht sind dann Journalisten wie Heribert Prantl, Bernd Ulrich, Alex Ruehle, Julia Friedrichs und Sabine Rückert Vorbilder. In vielen Texten und Kommentaren von ihnen schimmert eine politische Grundhaltung durch – bessere Flüchtlingspolitik, der Wunsch nach einer echten sozialdemokratischen Partei, eine gerechtere Steuerpolitik, der Wunsch, dass Frauen gefördert und gleichgestellt gehören, der Wunsch, dass starre Muster durchbrochen werden, wir ein besseres Land werden. Mein derzeitiges Top-Thema ist eben: der Wunsch nach besseren Chancen für sozial eher ausgegrenzte Menschen – durch unser Bildungssystem, durch uns alle. Mit dieser Sache mache ich mich sehr gern gemein.

Wir danken Marco Maurer für das Gespräch!

Lesen Sie hier unsere Rezension des Buches von Marco Maurer: Du bleibst was du bist.