Lernforscher Michael Fritz: „Unser Gehirn will lernen“

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Published On: 1. November 2013By

Lernen mit Spaß – davon träumen Schüler genau wie Eltern und Lehrer.  Mit dem Ideal beschäftigt sich eine Studie, die unser Kunde, das Online-Lernportal scoyo, Anfang September zusammen mit der Kinderzeitschrift leo veröffentlicht hat. Wir stellen einzelne Ergebnisse und eins von insgesamt vier Interviews vor, die wir für scoyo dazu mit Experten geführt haben.

scoyo ist das größte Online-Lernportal in Deutschland. Über animierte Geschichten können Kinder von der ersten bis zur siebten Klasse eigenständig im werbefreien Raum Unterrichtsstoff wiederholen und vertiefen.

Ergebnis der Studie: Die Begeisterung am Lernen schwindet mit dem Alter

Sowohl die Befragung von Erwachsenen als auch die von Schülern zeigen: Kinder lernen grundsätzlich gerne, wenn Kontext und Motivation stimmen. Mit steigendem Alter aber schwindet bei vielen die Begeisterung. Nur sechs Prozent der 13-Jährigen sagen von sich, dass Lernen ihnen noch Spaß bringe. Schüler nannten projektbezogenen wie praktischen Unterricht und Lernen am Computer, wenn es um ihre Vorstellungen und Wünsche zum Thema Lernen in der Schule ging.

Als Ergänzung und zum Abgleich zu den Umfragen unter Kindern und Eltern haben wir mit Michael Fritz gesprochen. Er ist Lernforscher am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.

Michael Fritz, Lernforscher.

Glauben Sie, dass der Spaß heutzutage in der Schule zu kurz kommt?

Je älter Schüler werden, desto kürzer kommt der Spaß. Man kann das aber ändern. Es gibt inzwischen viele Schulen, die mehr auf das Individuum schauen. Das sind Schulen, die stärker lernerzentriert arbeiten. Der Lehrer befähigt die Schüler, das Lernen, das Trainieren selbst zu übernehmen. Lehrkräfte sind nach dieser Auffassung eher Lernbegleiter oder Lerncoach.

Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach der Spaß beim Lernen?

Als Lernexperte mit dem Hintergrund der Neurobiologie kann ich ganz klar sagen, Spaß ist das Wichtigste, was zum Lernen gehört. Lernen, das auf Dauer keinen Spaß macht, ist zwecklos! Das Gehirn ist so angelegt, dass es nichts lieber tut, als zu lernen. Immer wenn das Gehirn die Erfahrung macht, etwas verstanden zu haben, fühlt sich der Lernende gut und bestätigt. Das löst Spaß aus. Lernsituationen sollten deshalb so angelegt sein, dass sie dem Lernenden mindestens am Schluss das Gefühl von Erfolg, von Können und damit von Freude und Spaß geben. Das schließt nicht aus, dass zwischen der Anfangssituation und dem Freudegefühl oft eine ganze Menge Anstrengung steckt, im Gegenteil: Nur der selbst überwundene Widerstand lässt einen die eigenen Kräfte spüren. Deshalb ist es wichtig, dass der Lernende schon Vorfreude auf das Lernziel empfindet, um auch die anstrengenden Phasen zu überwinden. Diese Lust auf das Lernziel kann im Übrigen keine Lehrkraft machen. Die kann nur beim Lernenden selbst entstehen. Nur wenn es ein Ziel ist, für das sich der Lernende frei und autonom entschieden hat, kann er die Verantwortung auch in anstrengenden Phasen nicht abschieben oder mit Frustration und Widerstand reagieren.

Eine Kinderumfrage, die wir zu diesem Thema durchgeführt haben, hat ein ähnliches Bild gezeichnet: Mit sechs Jahren geben noch 53 Prozent an, dass sie immer Spaß beim Lernen haben, bei den 13-Jährigen sagen das nur noch 6,5 Prozent. Woran liegt es, dass der Spaß mit zunehmendem Alter nachlässt?

Was die Schüler sagen, können wir mit Studien belegen. Je jünger Kinder sind, desto häufiger haben sie Erfolgserlebnisse und empfinden ihre Umgebung als ihnen wohlgesonnen. Das gilt vor allem für den Kindergarten und auch noch in den ersten Klassen der Grundschule. Mit zunehmendem Alter, spätestens ab Klasse 5 und 6, erleben sich immer mehr Kinder immer öfter in Situationen, in denen ihre Umgebung ihnen mitteilt: Du kriegst es nicht hin. Das sorgt mit dafür, dass es auch so eintritt. Es demotiviert und frustriert, macht lustlos und macht vor allem keinen Spaß.

Worin sehen Sie die Ursache dafür?

Verantwortlich dafür sind in unserem deutschen Schulsystem drei Faktoren. Erstens haben wir immer noch ein selektives Schulsystem. Zweitens wird spätestens ab der Sekundarstufe immer mehr Wert auf das Durchbringen von Stoff gelegt und immer weniger auf den Erfolg des Einzelnen. Noten, so wie sie verwendet werden, sind der dritte Faktor: Sie orientieren sich entweder an einer sozialen Norm (innerhalb dieser Gruppe bist du der Schlechteste oder Beste) oder an einer absoluten Norm: Ein Schüler der 9. Klasse, muss das und das so und so gut können. Sie gehen nicht auf das Leistungsvermögen, die Ausgangssituation und die Entwicklung des Individuums ein. Das Gehirn lernt dann, dass sich Anstrengung nicht lohnt.

Eine Alternative wäre, wenn Lehrkräfte dafür sorgen, dass Lernende in möglichst vielen Situationen selbstgesteckte Ziele erreichen können. Die Aufgabe der Lehrkräfte besteht darin, die Rahmenbedingungen für jeden Lernenden so zu setzen, dass die Lernziele und damit die Erfolgserlebnisse, die zur Freude führen, bestmöglich erreicht werden.

Wie können denn diese Rahmenbedingungen aussehen, damit Schülerinnen und Schüler mehr Spaß empfinden? Wir haben Eltern und Kinder befragt, was ihre Erfahrung ist. Ergebnis: computergestützte, praktische und projektbezogene Aufgaben. Können Sie diese Einschätzung bestätigen?

Alles was projektartig, handlungsorientiert und an einem konkreten Produkt orientiert ist, hat mehr Potenzial auf Spaß, Freude und Erfolg, als das, was nur eindimensional über das nur Hören und nur Sehen stattfindet. Alles, was ich mir mehrkanalig, das heißt mit allen Sinnen, mit dem ganzen Körper, eben mit Kopf, Herz und Hand erarbeite, wo ich mehrere Regionen meines Gehirns nutze, sorgt für eine intensivere Verarbeitung, sorgt für mehr Involviertheit, für größeren Lernerfolg und damit für mehr Spaß.

Dass Kinder dennoch auch am Computer Spaß erleben, liegt daran, dass dieses Medium in einem Punkt sehr gut ist: Es lässt sich auf den Lernenden ein. Der Lernende entscheidet selbst, auf welchem Level er sich die nächste Herausforderung holt. Wer am Computer arbeitet, kann sich außerdem immer wieder Unterstützungsmöglichkeiten, das Hilfesystem, den Sitznachbarn, die Lehrerin oder sonst jemanden suchen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Und der Computer ist klasse darin, dem Lernenden ein direktes Feedback zu geben über das, was er gut kann. Erwachsenen und Jugendlichen können Computerprogramme darum ab und zu eine gute zusätzliche Lernunterstützung bieten. Bei Kindern in der Grundschule aber kann der Computer den Methodenmix im Unterricht zwar ergänzen, den guten Erzieher und die gute Lehrerin aber auf keinen Fall ersetzen.

Das Interview führte Julia Valtwies von Mann beißt Hund.