„Du bleibst was du bist“: Marco Maurer über Chancengerechtigkeit

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Published On: 21. April 2015By

Der Journalist Marco Maurer hat mit „Du bleibst was du bist“ ein lesenswertes Buch über Chancenungleichheit im Bildungssystem geschrieben. Die vielen Leserbriefe und Rückmeldungen auf sein ZEIT-Dossier „Ich Arbeiterkind“, in dem er Anfang 2013 von seinen persönlichen Erfahrungen berichtet hatte, haben ihn motiviert, das Thema ausführlicher zu recherchieren.

Maurer ist Sohn eines Schornsteinfegers und einer Friseurin. Sein Abitur hat er über den Zweiten Bildungsweg an einem Kolleg erworben. Er arbeitet heute als freier Journalist unter anderem für DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung und den Bayerischen Rundfunk.

Chancengerechtigkeit – Bildungsthema in unserer Agentur

Das Thema Chancengerechtigkeit beschäftigt uns in der Agentur seit vielen Jahren, unter anderem wenn es um die Kommunikation von Förderprojekten geht. Allein die Tatsache, dass es so viele dieser Projekte gibt, zeigt, wie aktuell das Buch Maurer ist. So haben wir das Projekt „grips gewinnt“ von der Joachim-Herz-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung mit auf den Weg gebracht. Das Stipendium unterstützt begabte und motivierte Schülerinnen und Schüler, die finanzielle, soziale oder kulturelle Hürden zu überwinden haben. Unser Kunde Deutsche Universität für Weiterbildung forscht gerade an dem bundesweiten Projekt „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“, das die Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschule verbessern soll. Und für die Pressearbeit zum Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung haben wir uns mit den Forschungsergebnissen des Preisträgers Aladin El Mafaalani beschäftigt. Der Soziologe hat untersucht, womit Bildungsaufsteiger zu kämpfen haben. So bedeutet Aufstieg in ein anderes Milieu für viele, sich von Eltern und Freunden zu entfernen, wenn nicht gar mit ihnen zu brechen. Auch Maurer hat für sein Buch mit Mafaalani gesprochen.

Eine Reise durch Deutschland voller Begegnungen

Neben den Gesprächen mit Experten berichtet Maurer von seinen Begegnungen mit erfolgreichen Menschen, denen der Aufstieg aus „einfachen“ Verhältnissen gelungen ist. Er hat u. a. die Politiker Czem Özdemir und Frank Walter Steinmeier getroffen, Bahnchef Rüdiger Grube und den Kulturwissenschaftler und Leiter des Victoria and Albert Museums, Martin Roth. In einem kleinen Online-Dossier als Spin-Off zu seinem Buch fasst Maurer diese Gespräche in kurzen Porträts zusammen. Er hat außerdem Menschen befragt, die Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Schichten helfen, ihre Interessen und Talente zu entdecken. Alle Erkenntnisse aus diesen Gesprächen setzt er immer wieder in Bezug zu seinen persönlichen Erfahrungen, die er reflektiert und sehr offen schildert. Was allerdings fehlt, sind die Stimmen derer, die es nicht geschafft haben, die den Aufstieg verpasst haben. Sie hätten vielleicht über die Hürden gesprochen, die bist heute nicht zu überwinden sind.

Vergleich mit anderen Ländern

Neben vergleichenden kurzen Blicken über den Tellerrand in die Schweiz, wo er studiert hat, berichtet Maurer ausführlich über seinen Ausflug nach Finnland. Das Land gilt als Mekka für alle, die nach innovativen Bildungskonzepten Ausschau halten.

Maurers Frage, die sich wie ein roter Faden durch Buch und Interviews zieht: Leben wir einem gerechten Land? Alle Ansprechpartner – mehr oder weniger relativierend – verneinen dies. Maurer erhält von seinen Gesprächspartnern Zuspruch für seine Thesen:

  • Die Aufstiegsmöglichkeiten für Menschen aus nicht-akademischen Schichten haben sich gegenüber den 70er Jahren verschlechtert.
  • Wenn Aufsteiger aus nicht-akademischen Familien den Weg durch das deutsche Bildungssystem bewältigen und sie Karriere machen, so schaffen sie das oftmals nur unter immensen Anstrengungen.
  • Aus eigenen Kräften gelingt Kindern aus bildungsfernen Milieus der Aufstieg kaum – sie brauchen Hilfe von Menschen, die sie unterstützen.
  • Selbst wenn der Aufstieg gelungen ist, bleibt ein Gefühl der Ausgeschlossenheit und Verunsicherung. Es fehlen die Rückhalt gebenden Netzwerke und oftmals finanzielle Unterstützung.
  • Die Vielfalt der sozialen Milieus unserer Gesellschaft bildet sich weder in den Schulen noch in den Hochschulen oder später in akademischen Berufen ab. Umgekehrt findet sich in handwerklichen Berufen kaum Nachwuchs aus akademischen Familien.
  • Unser Schulsystem ist trotz einiger Reformen immer noch zu stark auf Segregation ausgerichtet.

Persönliche Erfahrungen eingeflochten in Fakten

Maurer greift aktuelle und drängende Fragen zur Chancengerechtigkeit auf und sucht nach Lösungen. „Du bleibst was du bist“ ist aber nicht nur wegen seiner inhaltlichen Relevanz empfehlenswert, sondern auch als Vorbild für ein informatives und zugleich spannendes Sachbuch. Maurer untermalt Zahlen, Daten und Fakten, die er recherchiert, mit seinen persönlichen Erfahrungen, Kommentaren und den detaillierten Schilderungen seiner Begegnungen mit verschiedenen Gesprächspartnern. Er bezieht Leserinnen und Leser in seinen Erkenntnisprozess ein und berichtet konsequent aus der Ich-Perspektive. Damit hebt er sich angenehm ab vom Expertentum und der Allwissenheit der Autoren vieler anderer Sachbücher. Das ist nicht nur lesenswert, sondern auch ein Erkenntnisgewinn, weil Zahlen eben immer nur ein Teil der Geschichte sind.

Stimmungen und Details erzählen mehr

Wenn er von den Gesprächen etwa mit Özdemir und Steinmeier berichtet, gelingt es ihm, die Stimmungen und Details des Settings der Interviews konkret einzufangen. So lässt sich das Unbehagen, das die Fragen Maurers bei den beiden auch auszulösen scheinen, beim Lesen fast nachspüren. Offenbar ist die eigene Vergangenheit als Arbeiterkind nichts, worüber sich entspannt plaudern lässt. Özdemir selbst lässt den Grund für dieses Unbehagen erahnen, wenn auch er von einem „harten Bruch“ zwischen „meinem früheren und meinem heutigen Leben“ spricht. Und immerhin gestehen beide Politiker ein, dass unsere Gesellschaft von der Umsetzung eines chancengerechten Bildungssystems noch immer entfernt sei – eine Gesellschaft, die sie selbst als Menschen an der Macht doch mitgestalten.

Unsicherheit hinter der Souveränität

Offenbar ist Maurer ein Journalist, dem man sich anvertraut.

„Aber die Ängste zu versagen, blieben trotzdem immer extrem groß. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, dass ich es nicht wirklich verdient habe.“

Das gesteht der gestandene Kulturwissenschaftler Martin Roth. In Sätzen wie diesen zeigt sich, wie nachhaltig die Herkunft Menschen prägt und wie wenig selbstverständlich der berufliche Erfolg für diejenigen ist, die sich dafür in ein anderes Milieu hochgearbeitet haben. Für Außenstehende ist diese Unsicherheit kaum noch wahrnehmbar – das wird deutlich, wenn Maurer die Umgebung der Politiker und Manager beschreibt und wie souverän die ehemaligen Arbeiterkinder sich darin bewegen.

Erfolgreiche PR zum Buch

Nicht nur die Lektüre lohnt, auch die Kommunikation rund um das Buch sollte man sich als Beispiel für gelungene Buch-PR genauer ansehen: Neben dem ZEIT-Online-Dossier mit den Porträts hat Maurer eine eigene Website zum Buch eingerichtet, auf Facebook ist er mit einer Seite vertreten.

Maurer_Website

Schon Monate bevor „Du bleibst was du bist“ erschien, twitterte der Journalist mit Namen und Avatar des verstorbenen Pädagogen Georg Picht als @georgpicht. Der hatte schon in den 60er Jahren die Bildungskatastrophe prognostiziert. Maurer zitiert ihn in seinem Buch mehrfach als hoch aktuell.

Picht_Twitter

Twitter Account Georg Picht (alias Marco Maurer)

Die Medienresonanz kann sich schon nach den ersten Wochen nach dem Erscheinungstermin sehen lassen. Fast alle Rezensenten sehen in dem Buch einen wichtigen Beitrag und Anstoß, um über Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft zu diskutieren, u. a. Alex Rühle und Hanna Beitzer, beide in der Süddeutschen Zeitung. Auch eine kritische Reaktion des Bildungsjournalisten Christian Füller ist im „Freitag“zu lesen. Das Buch hat eine Diskussion ausgelöst.

Maurer ist offenbar gut vernetzt, aber er hat eben auch eine Mission. Die erscheint nicht nur authentisch, sie ist auch drängend. Denn trotz zahlreicher Reformen, Öffnung der Hochschulen für eine breitere Schicht von Studierenden, trotz verschiedener Programme für den „Aufstieg durch Bildung“ ist der Bildungserfolg bis heute in unserer Gesellschaft noch immer zu stark mit dem sozialen Status verknüpft. Zu dem Schluss kommen Studien wie der „Chancenspiegel 2014“ der Bertelsmann-Stiftung:

„Der Zusammenhang von Leistung und sozialer Herkunft ist seit Jahren aus verschiedenen Studien bekannt. Auch in den diesjährigen Analysen des Chancenspiegels zeigt sich dieser Zusammenhang unverändert: So haben Neuntklässler besserer sozialer Herkunft bundesweit einen durchschnittlichen Kompetenzvorsprung von 82 Punkten – das entspricht dem Wissensstand von etwa zwei Schuljahren.“PDF, Seite 30.

Lesen Sie auch unser Interview mit Marco Maurer zu seinem Buch.